Die Grenzen dicht

22. April 2020
Juri Viktor Stork

Bereits im Dezember 2019 habe ich im Artikel „Tanz auf der Schwelle“ darauf aufmerksam gemacht, dass 2020 ein schwieriges Jahr werden könnte. Es ging unter anderem um die Konjunktion von Saturn und Pluto im Steinbock am 13. Januar, die deutlich auf eine ernstzunehmende Instabilität von tragenden Strukturen sowie auf das Thema Tod hinwies. Heute wissen wir nun, durch was die Krise konkret ausgelöst worden ist. Und wir sehen wieder einmal, dass die Astrologie zwar die Themen der Zeit benennen kann, aber nicht die konkreten Vorgänge und Entwicklungen.

Astrologisch könnte man heute so interpretieren: Pluto (das todbringende Virus) hat die saturnischen Grenzen (die Körpergrenze) perforiert. Doch das scheint mir ein wenig zu kurz gegriffen, und es wäre einfach eine nachträgliche Anpassung einer im Horoskop sichtbaren Dynamik an das konkrete Geschehen. Natürlich tun wir Astrologen dies oft.

Und doch: Was der Auslöser dieser starken und schnellen Veränderung in unserem Leben war, ist – astrologisch gesehen – gar nicht so wichtig. Es hätte durchaus auch ein anderes, einschneidendes Ereignis sein können, ein Meteoriteneinschlag oder eine Umweltkatastrophe. Es ist die Angst vor dem Tod und die Angst vor dem Kontrollverlust, welche die Zeitqualität prägen. Das ist die Thematik, welche durch die Konjunktion von Saturn und Pluto angezeigt worden ist, nicht die eines Virus. Es ist deshalb angebracht, sich diesen Themen zuzuwenden, um sie im eigenen Leben zu erlösen.

Die Namen der Götter

Die Astrologie weiss um die «Namen» der Urkräfte. Waren das in alten Zeiten die Gottheiten, so verstehen wir heute unter deren Namen Qualitäten. Saturn ist die Urqualität der Grenze, Pluto die der Transformation des Lebendigen. Das sind die zwei gegensätzlichen Kräfte, die im Moment wirken. Saturn will festigen, Pluto will Gefestigtes beenden.

Saturn

Saturn gilt als der Hüter der Schwelle. Er ist das Symbol der Grenze, auch das der Grenze der Lebenszeit. Traditionelle Darstellungen zeigten ihn manchmal als Sensemann. Werde ich begrenzt, so wird auch meine Autonomie in Frage gestellt. Nicht alle mögen diese Erfahrung. Doch was wären wir ohne Grenzen? Sie ist ein fundamentales Prinzip der Schöpfung, ohne sie gäbe es weder Form noch Inhalt, kein Ich und kein Du. Nichts kann sein, ohne dass wir es unterscheidend wahrnehmen und erfahren können. Die Grenze ist der Anfang und das Ende von Zeit und Raum, sie ist eine Grundlage jeglicher Erfahrung.

Saturn kann als Herrscher der Zeit verstanden werden. Er erschafft die Zeit, in dem er die Grenzen bildet zwischen dem «Vorher» und dem «Nachher». Im alten Rom wurde er «Kronos» genannt. Als Gebieter der unentrinnbar zerrinnenden Zeit konfrontiert er uns mit der Endlichkeit jeglichen Lebens. Als Gegenspieler des lebensspendenden Prinzips umfasst und ermöglicht er paradoxerweise das Leben selbst. Das tut er, indem er das Leben begrenzt und es so erst erfahrbar macht. Jede Begegnung mit Saturn ist deshalb eine Begegnung mit der Wirklichkeit. Kommt er in unserem Leben vorbei, so konfrontiert er uns mit jenen Bereichen, die den Bezug zur Wirklichkeit verloren haben. Er kontrolliert, ob unser Haus in Ordnung ist, ob die Hausaufgaben gemacht, die Schulden bezahlt und ob überhaupt in dem Haus jemand anwesend ist, der Verantwortung übernimmt. Er ist der grosse Kontrolleur, der so manchen beim Schwarzfahren im Zug des Lebens erwischt. Dies hat unweigerlich Konsequenzen, die manchmal zu einer grösseren Korrektur zwingen.

Hüter der Unterwelt

Pluto ist im Mythos der Hüter der Unterwelt. Er sorgt dafür, dass das Totenreich vom Hier und Jetzt getrennt bleibt. Pluto wacht eifersüchtig über den Hades, er lässt nicht zu, dass die bereits Gestorbenen das Totenreich wieder verlassen. Über diese scharfe Trennung sind wir im Allgemeinen alle recht froh. Hier im Leben aber will selten jemand etwas mit Pluto zu tun haben. In frühen Zeiten soll sein Name nie laut ausgesprochen worden sein, und geopfert wurde ihm mit abgewandtem Gesicht. Man wusste um die hypnotische Kraft, mit dem einem der Fürst der Unterwelt in seinen Bann ziehen konnte.

Pluto als Prinzip konfrontiert uns mit der Endgültigkeit des Todes, und der Angst vor der Auflösung des Bewusstseins. Sein Dienst an der Schöpfung ist es, denjenigen Teil der Welt, der von Leben erfüllt ist, von Abgestorbenem frei zu halten. Astrologisch wird er auch mit kollektivem Schicksal in Verbindung gebracht, da er sehr langsam durch den Tierkreis wandert und so ganze Generationen prägt. Persönliche Begegnungen mit dieser Kraft geschehen meist schockartig, sind schwer zu verkraften und mit Panik verbunden. Doch haftet dem Geschehen stets etwas seltsam Überpersönliches an. Instinktiv erkennt man, dass man es mit einer Macht zu tun hat, die zwingen kann.

Die Auswirkungen der Konjunktion dieser beiden Planetengötter im Januar tragen deutlich sichtbar die Signaturen beider Qualitäten. Unübersehbar sind die saturnischen Grenzen, die sich schlagartig manifestiert haben: Wir leben mit Ausgangssperren, Grenzschliessungen und Reisebeschränkungen, üben uns in Social Distancing, stehen vor den geschlossenen Türen von Läden oder müssen Arbeitsverbote oder Quarantänemassnahmen erdulden. Wir tun das entweder freiwillig, also mit aktiver Selbstbegrenzung, oder wir fügen uns den Anordnungen jener, die Befehlsgewalt haben.

Unübersehbar ist auch das Wirken von Pluto: Wir reden über das Sterben. Wir studieren Statistiken der Todesfälle, sehen Bilder von gefüllten Leichenhallen und bangen um unsere Alten. Wir fürchten uns, wenn es im Hals kratzt oder jemand im selben Zugabteil hustet. Wir haben Angst um uns selbst und um unsere Nächsten. Um sich selbst vom Dunkel zu entlasten, suchen manche auch nach Schuldigen, sei es die WHO, die Schattenregierung eines «deep state», Bill Gates, die Chinesen oder andere Übeltäter frei nach Wahl. Das Böse ist dann im Aussen, im Anderen, in der Welt – eine altbewährte, aber nichtsdestotrotz irrationale Strategie mit üblem Ausgang für alleDieses Verhalten dient hauptsächlich dazu, das schwierig zu ertragende Gefühl der Ohnmacht abzuwehren. Die Spaltung, die so vollzogen wird, vergrössert nur den Schatten. Besser wäre es, sich mit seinen Ängsten zu beschäftigen und zu untersuchen, was deren Ursache ist. Über kurz oder lang landen wir dann bei der Angst vor dem Tod.

Aus Angstmuster aussteigen

Die Zeitqualität hat also sowohl saturnische Grenzen wie plutonische Furcht in einer bis vor kurzem undenkbaren Dimension aktiviert. Saturn fordert auf, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Das ist ein Prozess, der mehr Aufmerksamkeit und Wachheit mit sich bringt. Pluto hingegen bringt die Furcht in unser Leben, auf die wir instinktiv reagieren, ohne Möglichkeit, diese Reaktion bewusst zu steuern. Die einen verstecken sich, andere werden wütend, und wiederum andere ziehen es vor, den Schrecken ganz einfach zu leugnen und so zu tun, als sei nichts geschehen.

Allen diesen Reaktionen sollten wir mit Verständnis begegnen, bei uns selbst wie bei anderen. Die Angst der anderen ist immer auch die eigene Angst. Sich dessen bewusst zu werden, ermöglicht es, schneller aus den Angstmustern wieder auszusteigen.